aus Verwaiste Eltern München e.V., Überall deine Spuren, München
Text von Werner Kühnert (64)
Freuden wollt` ich dir bereiten
Zwischen Kämpfen, Lust und Schmerz
Wollt` ich treulich dich geleiten
Durch das Leben himmelwärts.
Doch du hast’s allein gefunden.
Wo kein Vater führen kann,
Durch die ernste, dunkle Stunde
Gingst du schuldlos mir voran.
Die Welt treibt fort ihr Wesen,
Die Leute kommen und gehn,
Als wärst Du nie gewesen,
Als wäre nichts geschehn . . .
Du weißt’s, wie mir von Schmerzen
Mein Herz zerrissen ist!
(Joseph von Eichendorff)
Frank wurde am 22. April 1965 als unser zweites Kind geboren.
Er verbrachte eine unbeschwerte Kindheit auf dem Lande, in einem
Einfamilienhaus am Waldrand mit seinen Eltern, drei Geschwistern und
allerlei Tieren. Frank war sehr tierlieb und technisch interessiert. Beim
benachbarten Landwirt fuhr er bereits mit zwölf Jahren den Traktor.
Die lebensbedrohliche Erkrankung seiner Mutter an Krebs, als Frank 14
Jahre alt war, erschütterte diese frohe Kindheit. Trotz Operation und
verschiedenster Klinikaufenthalte verloren wir den Kampf. Ein knappes Jahr
nach Entstehung des Gehirntumors starb die Mutter von vier Kindern am 27.
Januar 1980, dem vierten Geburtstag des jüngsten Sohnes Florian. Sie
durfte zu Hause sterben; die Ärzte hatten von einer zweiten Operation
abgeraten. Frank war mit am Sterbebett der Mutter. Es war Gott sei Dank
ein gnädiger Tod ohne schmerzhafte Leidenszeit, trotz ständiger
Pflegebedürftigkeit in den letzten drei Monaten. Beim Tod der Mutter war
Frank 15, seine Schwester 16 und die beiden jüngeren Brüder 10 und 4 Jahre
alt. Bei den beiden “Großen” , die ja schon fast erwachsen waren, hatte
ich, hatten aber auch Verwandte und Bekannte das Gefühl, dass sie diesen
Verlustschmerz tapfer trugen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie unter
Gleichaltrigen nicht als “Trauerklöße” gelten wollten.
Während dieser schweren Zeit bereiteten wir den Wegzug aus der ländlichen
Idylle vor und renovierten das künftige Haus in Landshut. Trotz der Sorge
um die Mutter war Frank derjenige, der am meisten mit Hand anlegte beim
Erweiterungsbau. Hier stellte sich auch heraus, dass er der geborene
Handwerker war. Später ergriff er den Beruf des KFZ-Elektrikers und
-Elektronikers.
Frank war alles andere als ein Außenseiter. Er hatte viele Freunde, Spaß
am Ski- und Schlittschuhfahren, an seinem Moped und später an Autos.
Lediglich unter der Bundeswehrzeit litt er und bereute es, nicht “Zivi”
geworden zu sein. Er ließ sich auch nicht in seiner Fliegeruniform zu
Hause sehen, was ich als Vater bedauerte.
Mit seiner Freundin verstand er sich gut; sie unternahmen im Laufe der
Zeit einige schöne Reisen in ferne Länder. Als sie sich ca. drei Jahre
kannten, baute Frank eine gemütliche Einliegerwohnung im Haus seiner
Freundin aus, wo sie zusammen mit deren Muter wohnten. Uns besuchte er
oft, besonders wenn es etwas zu reparieren gab. Dann konnte man fest mit
Frank rechnen. Er war ein handwerkliches Genie und jederzeit hilfsbereit.
Ungefähr ein halbes Jahr nachdem Frank in einer großen Elektronikfirma zu
arbeiten begonnen hatte, fiel uns auf, dass er oft recht blass und
abgekämpft aussah. Er klagte auch über Schlaf- und Konzentrationsstörungen
und darüber, sich nicht mehr richtig entspannen zu können. Wir rieten ihm,
sich in fachärztliche Behandlung zu begeben und hofften, dass es ein
vorübergehendes Symptom war. Außerdem hatte er ja seine Verlobte, bei der
wir ihn in guten Händen wussten. Die beiden würden sich schon gegenseitig
helfen, dachte ich.
Am Sonntagmorgen, dem 27. Januar 1991 rief die besorgte Verlobte bei uns
an und wollte wissen, ob Frank bei uns übernachtet hätte, denn er sei in
der Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich argwöhnte zunächst nichts, weil
ja Faschingszeit war und ich wusste, dass unsere Kinder nicht Auto fahren,
wenn sie etwas getrunken haben. Ich versuchte die Verlobte zu beruhigen:
Frank habe sicherlich bei Freunden übernachtet und würde wohl bald
auftauchen. Aber komisch war es schon, dass er nicht wenigstens angerufen
hatte ...
Gegen Mittag traf uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wie ein
Keulenschlag die Hiobsbotschaft: Frank ist tot! Der erste Gedanke: Wieso
tot? Er ist doch immer so vorsichtig gefahren! Aber es war nicht die
Verkehrspolizei, die an der Wohnung der Verlobten die Todesnachricht
überbrachte, sondern zwei Herren der Kriminalpolizei. Sie kamen auch zu
mir und fragten, ob ich bereit sei, mitzukommen und meinen Sohn zu
identifizieren. Er habe sich durch Einatmen von Kohlenmonoxid das Leben
genommen.
“Nein, das kann ich nicht!”, wehrte sich alles in mir. “Dann muss es halt
die Verlobte machen”, war die lapidare Antwort. Mein Gott, ich konnte doch
nicht das Mädel alleine hinfahren lassen! Schweren Herzens, ohnmächtig,
wie vor den Kopf geschlagen, nicht fähig, es zu fassen, sagte ich zu.
Meine Lebensgefährtin und Franks Verlobte kamen mit, auch deren Mutter,
die unseren Frank wie einen eigenen Sohn liebte.
Diese schweigende Autofahrt zur ca. 30 km entfernten ehemaligen
Kreisstadt, wo Frank in der dortigen Friedhofskapelle mittlerweile
aufgebahrt war, werden wir wohl nie vergessen. Die Beamten der
Kriminalpolizei nahmen uns in Empfang. Es war ein bitterkalter
Januarmorgen, und nachdem die dürftige Decke zurückgezogen war, spürten
wir, als wir ihn berührten und ein letztes Mal streichelten, eine
abgrundtiefe Kälte.
Alles in uns sträubte sich dagegen, aber wir mussten begreifen: Es ist
geschehen.
Die Verlobte versicherte, dass es keinen Streit gegeben hatte. Sie hatten
sich am Abend bei gemeinsamen Bekannten treffen wollten; Frank hatte
gesagt, sie solle schon vorausfahren, er käme nach. Auch am Arbeitsplatz
war nichts vorgefallen. Franks Vorgesetzter, der das Geschehen ebenfalls
nicht fassen konnte, sagte uns, dass Frank hatte befördert werden und mehr
Verantwortung übernehmen sollen, weil er sich so hervorragend
eingearbeitet hatte wie keiner seiner Vorgänger. Dass er keine Schulden
hatte, wusste ich. Was, um Himmels Willen, war passiert?
Franks Arzt fiel aus allen Wolken. Ja, er habe bei Frank eine Art
endogene, von innen heraus entstandene Depression diagnostiziert und ihm
ein leichtes Antidepressivum verschrieben. Aber damit hatte er doch nicht
gerechnet ...! Frank jedoch hat allem Anschein nach seine Depression als
etwas sehr Bedrohliches erlebt und tunlichst vermieden, es zu zeigen. Er
wollte niemanden damit belasten. Die engsten Verwandten durften es nicht
wissen, weil er sich schämte, und die einzige Mitwisserin, seine Verlobte,
durfte es niemandem sagen. Er versprach ihr, als sie sich zuletzt sahen,
etwas dagegen zu unternehmen.
Auf einer Tonkassette im Autoradio fanden wir schließlich eine Nachricht.
Es waren ausgewählte Songs aus der Rockoper “The Wall” von Pink Floyd. Wir
haben den englischen Text mühsam übersetzt und diese Strophen als sein
Abschiedsvermächtnis akzeptieren müssen. Darunter ist eine Zwiesprache mit
der Mutter: “Denkst du, sie werden die Bombe werfen? Kann ich der
Regierung trauen? Werden sie mich an die Front stellen?” Damals, im Januar
1991, eskalierte der Golfkrieg; Frank war Reservesoldat und Einsätze der
Bundeswehr wurden öffentlich diskutiert. Wie in einem Wiegenlied versucht
die Mutter ihren Sohn nach jeder Frage zu beruhigen. Weitere Strophen:
“Ich brauche keine Medikamente. (...) Denkt nicht, dass ich irgendetwas
brauche . (...) Alles in allem waren es nur Steine in der Mauer. Good bye,
cruel world, I`m leaving you today. Goodbye, goodbye ...”
Frank wählte den Todestag seiner Mutter und aller Wahrscheinlichkeit nach
auch die gleiche Stunde. Seine Mutter starb elf Jahre vorher am 27. Januar
morgens um 1 Uhr an Krebs.
Herr, wir sind so voller Traurigkeit und
wollen doch nicht so verlassen bleiben,
aufgehalten in bitteren Gedanken, im Grübeln über Schuld und Fehler.
Herr, nimm du uns die Sorge ab für die, die wir nicht mehr erreichen
können.
Wir bitten dich für ihre zerrissene Seele, dass du sie hell machst
und ihr bei dir neues Leben schenkst. (Corinna Diestelkamp nach Psalm
90.12)
Ein Blitz war durch die Zeit gefahren und hatte sie durchtrennt”, schreibt
Dr. Erika Bodner im Jahresheft 9/97-98. Ich hoffte damals immer, aus
diesem Alptraum endlich aufzuwachen. Gleichzeitig wurde immer gewisser,
dass es kein Alptraum war.
Ich erwog, mit 55 Jahren vorzeitig in Pension zu gehen. Ständig lauerten
die Gedanken, warum das alles geschehen konnte, monatelang, jahrelang! Ein
kleiner Trost war die Lektüre von “Wenn Mütter trauern”, in dem die beiden
letzten Kapitel die Überschrift tragen: “Wenn Väter trauern”. Diese Väter
sprachen mir aus der Seele. Ein Lichtblick dann der Kontakt zu den
“Verwaisten Eltern” (durch dieses Buch), wertvolle Unterstützung aus
München und Hamburg, Versuch der Gruppengründung in Landshut im Frühjahr
1992. Es klappte! Ich bekam das Gefühl, dass Franks Tod doch nicht umsonst
gewesen war. Es wäre mir auch unerträglich gewesen, wenn sein Tod nichts
bewirkt hätte.
Ganz wertvoll waren die von München aus angebotenen Wochenendseminare,
Fortbildungen und der Erfahrungsaustausch für Gruppenbegleiter, zur
gleichen Zeit auch der Kontakt zu AGUS Bayreuth (Angehörigengruppe um
Suizid). Schon 1995 wurde die Gruppe zu groß: Elf suizidbetroffene, dazu
die anderen trauernden Eltern. Deshalb gründeten wir noch im selben Jahr
eine reine AGUS-Gruppe Landshut, an die sich nun alle Suizidbetroffenen
wenden konnten.
1995 auch der erschütternde Suizid einer vierzehnjährigen Gymnasiastin
ganz in unserer Nähe. Sie wurde an ihrem 14. Geburtstag beerdigt, ihr
selbst gewählter Tod ein Rätsel. Sonst eine Einserschülerin, die Sechs in
Mathematik, eine Ausnahme, kann nur der Auslöser gewesen sein. Sie war als
lebenslustiges Mädchen bekannt, war bayerische Vizemeisterin im Kegeln.
Ein Schock für Angehörige, Lehrer und Schüler am Gymnasium – und für uns
der Anlass, Kontakt zu den Schulbehörden und zur “Arche” in München
aufzunehmen. Wir erfahren, dass eine Schulpsychologin in Gütersloh, Frau
Dr. Heidrun Bründel, ein Unterrichtsmodell zur Suizidprävention entwickelt
hat. Dieses Modell stelle ich in Niederbayern und Schwaben den
Schulpsychologen und Beratungslehrer(inn)en vor, erhalte auch die
Nachdruckerlaubnis dafür, denn ich brauche größere Mengen. Als Einstieg zu
diesen Vorträgen dienen Szenen aus dem bekannten Video “Schattenrisse” von
Yola Grimm über Geschwistertrauer. Die 1998 ebenfalls von Yola Grimm
gedrehte Dokumentation “Bittere Tränen” über Suizidversuche und Suizid von
Jugendlichen erzählt eigentlich auch Franks Geschichte. Es gibt
verblüffende Parallelen.
In diesem Jahr habe ich die in Bayreuth entstandene Ausstellung “Gegen die
Mauer des Schweigens”, verwirklicht von einer jungen und selbst
betroffenen Werbegestalterin, nach Landshut geholt. Zunächst stellte die
AOK ihre Räume für fünf Wochen zur Verfügung. 30 Schulklassen besuchten
dank des Engagements der Religionslehrer diese aufrüttelnde Ausstellung.
Zur Vertiefung dienten Ausschnitte aus “Bittere Tränen” und eine
Buchausstellung zum Thema Suizid und Depression. Die Kaufmännische
Berufsschule II in Landshut holte die Ausstellung anschließend sogar in
ihr Schulgebäude. Damit bekamen weitere rund 1000 Schülerinnen und Schüler
Gelegenheit, sich mit den 30 Plakaten auseinander zu setzen. Die
Wanderausstellung wird in diesem Jahr noch an mehreren Orten zu sehen
sein.
Zum Schluss möchte ich aus einem Büchlein zitieren, das mir der erste
Tröster in größter Not war. Leider ist dieses Trostbüchlein vergriffen und
wird nicht wieder aufgelegt:
Es gehört zu unserem Menschsein dazu, dass wir längst nicht für alles eine
Erklärung haben, längst nicht auf alle Fragen eine Antwort bekommen. Und
so müssen wir, so hart es ist, es in dieser Situation aushalten – dass ihr
Leben so geendet hat. Da ist uns eine Wunde geschlagen. Sie wird noch
lange bleiben und, wenn überhaupt, erst spät vernarben. Die Narbe wird
bleiben und uns immer wieder erinnern. Es ist geschehen; wir konnten es
nicht verhindern. (Wilfried
Hufnagel)