Interview mit der Filmemacherin Yola Grimm
Yola Grimm arbeitet als freie Dokumentarfilmschaffende und lebt in
München. Sie realisiert seit über 30 Jahren Kinder- und
Jugenddokumentationen, u.a. Coming Out, SchattenRISSE, Fremde Augen,
DIKKAT! Wir kommen!, EASTSIDER, Flugzeug ohne Räder und Bittere Tränen. In
dem folgenden Beitrag berichtet sie von Ihren Erfahrungen bei der
Erstellung des Dokumentarfilms, dabei versucht Sie gute Ratschläge an
Jugendliche zu vermeiden und vielmehr Hilfestellungen bei einer möglichen
Suzidgefährdung zu geben.
Bittere Tränen
Ohne Voyeurismus und Kommentar erzählt der Dokumentarfilm Bittere Tränen
die Lebensgeschichten von Stefan, Alex und Marcel:
Stefan will sich mit 12 Jahren das Leben nehmen. Er kann nicht mehr und
ist am Ende seiner Kraft. Er entkommt dem Tod nur knapp. Er liegt drei
Tage im Koma. Auch nach diesem Suizidversuch ist er traurig und
lebensmüde. Stück für Stück gelingt es seiner Mutter und seinen
BetreuerInnen, ihn aus dem seelischen Loch herauszuziehen. Alexandra hat
mit 14 Jahren einen Selbsttötungsversuch verübt. Dahinter verbirgt sich
eine lange Leidensgeschichte: Vom eigenen Vater geschlagen, die Mutter
selbst suizid-gefährdet, Depressionen und Absturz in der Schule. Scheinbar
aus heiterem Himmel nimmt sich Marcel mit knapp 19 Jahren das Leben.
Marcel wollte in seinem Leben nicht versagen - sein eigener Suizid sollte
”todsicher sein”. Zurück bleiben seine Eltern und Freunde. Sie schildern
seinen „Freitod“ aus ihrer Perspektive und die schweren Folgen für ihr
Leben.
Bittere Tränen zeigt am Beispiel der Lebenslinien von
Stefan, Alexandra und Marcel, daß immer schwerwiegende Lebensumstände, aus
denen der junge Mensch keinen Ausweg mehr findet, Gründe für den Suizid
eines Jugendlichen sind.
Die Leiden des jungen Werthers
Auf der Realisierung von Bittere Tränen lastete eine schwere
Hypothek, denn seit Goethes Werther stehen Medien in dem Ruf,
Nachahmungseffekte hervorzubringen. Unsere Urängste und vielleicht auch
heimlichen Hoffnungen auf eine scheinbare Selbsterlösung vom Leben werden
durch die Suizid-Thematik berührt. Als 1774 der Roman „Die Leiden des
junger Werther“ von Johann Wolfgang Goethe erschien, gab es angeblich als
Folge eine Reihe von Liebeskummer-Suiziden. Goethes Roman wurde daraufhin
für einige Zeit verboten.
Im Fernsehprogramm sind öfter Spielfilmsuizide zu sehen. Daher hatte
Stefan mit zwölf Jahren die Information für seinen eigenen Suizidversuch.
Wie kann ein Dokumentarfilm der das Suizidthema problematisiert,
Selbsttötungen verhindern und nicht auch noch in den (Ver-) Ruf der
Nachahmung kommen? Diese Frage stellte ich den Betroffenen, den Fachleuten
und mir ein Jahr lang. Alle Menschen, die mit dem Thema beruflich zu tun
haben oder selbst betroffen sind, sind sich darüber einig, daß über Suizid
reden eine Selbsttötung verhindern kann. Bittere Tränen
versteht sich als stellvertretenden Hilfeschrei für alle suizidgefährdeten
Menschen. Der Dokumentarfilm ist genauso schonungslos gestaltet wie das
Thema selbst, denn es geht um Leben und Tod. Mit Bittere
Tränenmöchte ich
aufzeigen, wie wichtig das Leben eines jeden Menschen für sein Umfeld ist.
Welche bitteren Folgen und grausamen Narben der Suizid bei FreundInnen,
Eltern und Angehörigen hinterlässt. Zugleich möchte ich das Tabu zusammen
mit den ZuschauerInnen zum Thema machen und die Menschen über den Film
miteinander ins Gespräch bringen. Mit diesen Bewußtwerdungsprozess können
Warnsignale vom sozialen Umfeld früher erkannt werden.
Suizid ist kein SelbstMORD
Das Wort Suizid kommt aus dem Lateinischen und heißt sich töten. Der
Begriff Selbstmord ist insofern diskriminierend, weil er das Wort „Mord“
beinhaltet. Auch der Begriff „Freitod“ ist irreführend. Denn in der
Realität ist der „Frei“-Tod doch nicht so ganz freiwillig. Das wird am
Beispiel des Gefängnissuizides deutlich. Der Mensch würde weiterleben,
wenn er nicht inhaftiert wäre und das Umfeld reagieren könnte. Hier kann
deshalb nicht von Freiwilligkeit gesprochen werden.
Besonders tragisch ist es, wenn junge Menschen sich das Leben nehmen, denn
sie hätten noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt. Die Suizidgründe eines
Jugendlichen unterscheiden sich nicht von denen der Erwachsenen. Ursachen
für diese Verzweiflungstat können sein: Zwischenmenschliche Probleme in
Familie, Schule, Freundschaften; Liebeskummer (Werther), Kränkungen, Wut,
Aggressionen (Bedrohung und Erpressung durch andere Jugendliche),
Umbruchsituationen (Migration), traumatische Erlebnisse (sexueller
Mißbrauch), schwere Krankheiten (AIDS) und Depressionen. Die Verzweiflung
des Menschen ist so stark, daß sie zu einem sogenannten „Tunnelblick“
führt, die Leiden an Sinn- und Hoffnungslosigkeit des Lebens lassen die
Welt nur noch finster erscheinen.
Keine Frage der Anpassung
Ich habe im Zuge meiner Filmarbeit sehr viele Suizidfälle kennengelernt.
Jede Selbsttötung bzw. Suizid-Versuch ist unterschiedlich und die Gründe
sind so vielfältig wie das Leben selbst. Kein Mensch nimmt sich das Leben
aus nur einem einzigen Grund, immer steht ein Bündel an Motiven dahinter.
Alle SuizidantInnen haben aber eines gemeinsam: Sie sind sehr
perfektionistisch ausgeprägt und haben kein besonders starkes
Selbstwertgefühl. Ihnen fehlt ein geeignetes Handlungsinstrumentarium um
sich ihren Lebensraum gestalten zu können. Die Welt der Erwachsenen ist
gekennzeichnet von einem ansteigendem Egoismus und einer
Ellenbogenmentalität. „Das Recht des Stärkeren“ ist eine Haltung, die sich
in unserer modernen Gesellschaft zunehmend verbreitet. Menschen, die
anders denken werden als „Träumer“ und „Spinner“ abgetan. Diejenigen, die
sensibel und hilfsbereit sind, wie zum Beispiel Marcel haben es dann
besonders schwer. Er war ein Samaritertyp, der sich ehrenamtlich bei der
Feuerwehr für andere Menschen einsetzte. Für ihn stand das „Mensch sein“
im Vordergrund und das widersprach natürlich der
„Haben-wollen-Geldeinstellung“ in weiten Teilen unserer Gesellschaft.
Marcel war einem materialistisch geprägtem Umfeld stark ausgesetzt. Viele
definieren sich heute nur durch das Geld, das sie verdienen, frei nach dem
Motto: „Haste nix, dann biste nix.“ Und leider ist dieser Konflikt
zwischen Haben und Sein, im Sinne von Erich Fromm, auch ein zusätzlicher
Aspekt der Marcel zum Verhängnis geworden ist, kein Einzelfall. Ich denke,
wir Erwachsenen sollten dem sein-orientierten jungen Menschen auch eine
Chance geben und ihnen Lebensräume zu lassen, in denen sie leben, lieben
und atmen können. Ich befürchte unsere Gesellschaft würde seelisch
verarmen, wenn es nicht Menschen geben würde, die Mensch sein wollen, zu
träumen wagen und sich für eine bessere, menschlichere Welt engagieren.
Verdrängen nützt nichts
Das Thema „Suizid“ ist immer mit Schuldgefühlen verbunden. Wenn sich ein
Mensch, egal ob jung oder alt, das Leben nehmen will, dann ist das
besonders tragisch und automatisch kommen Schuldgefühle bei den
Überlebenden auf. Diese Schuldgefühle versperren aber den Zugang zu dem
Problem, denn der Suizid ist keine Frage von Schuld oder Unschuld. Erst
wenn die Schuldgefühle aufgelöst werden können, wird der Weg frei, um den
wahren Ursachen auf den Grund zu gehen und nach dem „Warum hatte dieser
Mensch keine Chance zu leben?“ und „Was ist passiert, daß er/sie sich das
Leben nehmen wollte?“ zu fragen. Ich denke, es ist relevant, nicht zu
verdrängen, sondern dieses „Warum“ zu ermitteln, sich in die Gedankenwelt
des SuizidantInnen einzufühlen und daraus zu lernen. Was wollte mir dieser
Mensch mitteilen über sein eigenes Leben und sein Umfeld. Gleich zur
Tagesordnung überzugehen, wie es leider viel zu häufig passiert, ist
fatal. FamilentherapeutInnen gehen sogar soweit, daß solche unbewältigten
Verdrängungsmechanismen in den nächsten Generationen wieder, noch
verkorster als in der Generation zuvor, zurückkehren.
Was tun?
Es ist möglich Selbsttötungen zu verhindern, denn ungefähr 90 % kündigen
ihren Suizid vorher an. Jede Androhung einer Selbsttötung muß
ernstgenommen werden. Kennzeichen eines guten Freundes oder Freundin ist
seine/ihre Verschwiegenheit und das gegebene Schweigeversprechen auch
eingehalten werden. Doch wenn es um Leben oder Tod geht, dann muß das
Schweigen gebrochen werden. Die Rolle eines freundschaftlichen
Geheimnisträgers muß entschieden abgelehnt werden. In solchen
Notsituationen ist es besser, gut zuzuhören und aktiv Hilfe anzubieten.
Der Freund oder die Freundin sollten klar und klar sagen, daß man/frau es
nicht möchte, daß der andere Mensch sich selbst umbringt. Beim
Telefonnotruf und anderen Beratungstelefonen ist es möglich sich,
teilweise rund um die Uhr, Rat zu holen. Gut ist es auch, sich an eine
Vertrauensperson zu wenden und mit ihr/ihm zu sprechen und sich nach
Beratungsstellen zu erkundigen. Insgesamt sollten wir alle mehr über uns
und unsere Gefühle reden, auch konstruktiv streiten verbindet! Alle
sollten bewußter, beachtsam und humaner miteinander umgehen.
Epilog
Stefan findet es heute besser über seine eigenen Probleme und Gefühle zu
reden als sie totzuschweigen. Alexandra und ihre Mutter haben es
geschafft, sich in ihrer scheinbar ausweglosen Lebenslage zu respektieren
und sich gemeinsam zu verändern. Für Marcel war es zu spät...
Bittere Tränen
ist FSK (Freiwillige
Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) geprüft gem. JÖSchg § 6/7 und
freigegeben für Menschen ab 12 Jahren
Suizidprävention
Die Suizidgründe eines Jugendlichen unterscheiden sich nicht von denen
der Erwachsenen ...